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Rezeption des „Lorscher Evangeliars” in der Karolingerzeit

Um 810 entstand das „Lorscher Evangeliar” (Alba Iulia, Bibl. Batthyáneum, Ms R II 1 u. Vatikan, BAV, Pal. lat. 50) als jüngste einer Reihe von Prachthandschriften, die am Hof Karls des Großen hergestellt worden waren. Wohl schon kurz darauf wurde es an das Kloster Lorsch geschenkt. Eine Rezeption seiner buchmalerischen Ausstattung – Kanontafeln, Illustrationen und Rahmenornamentik – lässt sich in Lorscher Handschriften aus dem 9. Jh. fassen.

Kanontafeln

Kanontafeln in mehreren Evangeliaren, die im 2. Viertel des 9. Jh. in Lorsch hergestellt wurden und den Ausgangspunkt für die Erforschung des Jüngeren Lorscher Stils bildeten, lassen in ihrer Gestaltung der Rahmen die Vorlage erkennen, auch wenn keine an die Pracht des „Lorscher Evangeliars” (Alba Iulia, Bibl. Batthyáneum, Ms R II 1, pagg. 13-24) heranreicht. Das nach seinem Empfänger, dem 826-838 amtierenden Wormser Bischof, benannte „Folcwich-Evangeliar” (Los Angeles, J.P. Getty Museum, Ms. Ludwig II 1, foll. 4r-9v) übernimmt im Inneren der Rundbogenarkadenrahmungen u.a. das leiterförmige Raster zur Einteilung der Evangelienstellen in Fünfergruppen. Diese Anordnung findet sich in dem nach seinem späteren Aufbewahrungsort betitelten „Seligenstädter Evangeliar” (Darmstadt, ULB, Hs. 1957, foll. 10r-15v) in den ersten drei Kanontafeln, allerdings nur ansatzweise und ist vermutlich nachgetragen. Analogien zum „Folcwich-Evangeliar” sind in der Anlage der wulstartigen Basen wie auch in der Gestaltung der Säulenoberflächen festzustellen, die ihnen einen Anschein von Plastizität geben. In den oberen Abschnitten der Kanontafeln zeigt sich ein ungewöhnlicher, untektonischer Aufbau, der direkt aus dem „Lorscher Evangeliar” abgeleitet werden kann: Auf die Rundbögen der unteren Säulen wurde eine zweite, kleinere Säulenreihe aufgesetzt, die den rechteckigen Rahmen für die Titel der einzelnen Kanontafeln tragen. Im „Lorscher Evangeliar” sind die Rundbögen auf kleinen Säulen – bestehend aus Basis, kurzem Schaft und Kapitell – postiert, die auf die Kapitelle der unteren Säulen platziert wurden, um figürlichen und vegetabilen Schmuck als Halterung für die Titelfelder der einzelnen Kanontafeln zu tragen. In einem Evangeliar, das sich später im Besitz des Bamberger Doms befand (Bamberg, SB, Msc. Bibl. 93, foll. 7r-10v), sind die acht erhaltenen Kanontafeln lediglich mit einem schlichten Liniengerüst ausgeführt. Die antikisierenden Titelfelder in Form von Tabulae ansatae weisen dennoch auf die Vorlage, das „Lorscher Evangeliar” (Alba Iulia, Bibl. Batthyáneum, Ms R II 1, pagg. 13-15, 18-19).

Evangelistenbilder

Ein heute in Großbritannien aufbewahrtes Prachtevangeliar (Manchester, John Rylands Univ. Libr., Latin MS 9) dieser Gruppe hat seine Kanontafeln verloren. Es enthält aber ein dem Markusevangelium vorgeschaltetes, mehrfarbiges und mit Gold gearbeitetes Evangelistenbild (fol. 50v): Markus sitzt, bereit zum Schreiben, auf einem Thron. Mit der linken Hand hält er, anscheinend auf Inspiration wartend, die Feder ans Ohr, die rechte Hand greift nach links zum Pult, auf dem ein aufgeschlagenes Buch liegt. Auf den geöffneten Seiten ist ein Vers vom Anfang des Evangeliums zu lesen: Vox clamantis in deserto: Parate viam Domini! Der Evangelist ist umgeben von einer Arkadenrahmung, in deren Rundbogenfeld das Symbol des Evangelisten, der Löwe, in Rot vor blauem Hintergrund dargestellt ist. Dass dieses Bild – trotz bisweilen geäußerter Zweifel – im „Lorscher Evangeliar” (Alba Iulia, Bibl. Batthyáneum, Ms R II 1, pag. 148) seine unmittelbare Vorlage hat, zeigen bis in kleinste Details gehende Übereinstimmungen: die Haltung des Evangelisten, insbesondere der die Schreibfeder prüfende Handgestus, die Gestaltung und Führung des Gewandes sowie die halbfigurige Darstellung des Evangelistensymbols mit dem nur durch eine Linie angedeuteten Nimbus und den weiß-blauen Daunenfedern an den Flügeln. Die Gestaltung der Arkadenrahmung und der Thronlehne zeigt außerdem Anleihen aus dem Lukasbild des „Lorscher Evangeliars” (Vatikan, BAV, Pal. lat. 50, fol. Iv).

Zierrahmen

Eine Rezeption des „Lorscher Evangeliars” ist auch in einem nur fragmentarisch erhaltenen Sakramentar auszumachen, das wohl im 3. Viertel des 9. Jh. in Lorsch entstanden ist (Erlangen, UB, Ms. 2000 u. Augsburg, UB, Cod. I.2.4° 1). In dem Erlanger Fragmentblatt ist die mehrfarbige Eingangsseite des Messkanons überliefert: Auf Purpurgrund wurde die TE-Ligatur in einem gerahmten und mit blauem Hintergrund ausgestatteten Medaillon ausgeführt. Eingefasst ist das Ganze von zwei Säulen, die den oberen Rahmen bildende Zierfelder mit Palmetten-, Schlüsselbart- und Rankenmotiven tragen. In den Schaft und den Balken des von einem Engel in einem kleineren, grün unterlegten Medaillon getragenenen T sind fünf quadratische Felder eingearbeitet, die oben in der Mitte ein Brustbild des segnenden Christus, in den anderen Quadraten die weiteren Anfangsworte des Canon missae enthalten: Te igitur clementissime pater. Palmetten in der Rahmung des blau unterlegten Medaillons wie auch dessen Goldkontur mit abwechselnden halbkreisförmigen und ovalen Ausbuchtungen am äußeren Rand sind exakt dem Rundbogen des Lukasbildes im „Lorscher Evangeliar” (Vatikan, BAV, Pal. lat. 50, fol. Iv) entnommen. Die zweigeteilten Kapitelle der rahmenden Säulen mit ihren Palmettenmotiven finden sich auch in der vierten Kanontafel des „Lorscher Evangeliars” (Alba Iulia, Bibl. Batthyáneum, Ms R II 1, pag. 16). Darüber hinaus gibt es weitere Schmuckelemente, die auf dieselbe Vorlage zurückzuführen sind.

Solche Entlehnungen finden sich nicht in den zwei zugehörigen Augsburger Fragmentblättern, in denen sich die Initialzierseite zum Pfingstsonntag (Augsburg, UB, Cod. I.2.4° 1, fol. 1r) erhalten hat: Zwei Binnenfelder sind hier von einem rot konturierten Rahmen umgeben, der in 24 Einzelfelder unterteilt ist. Elf Felder mit Apostelköpfen unter roten Feuerzungen und ein stark verblasstes Feld in der Mitte des oberen Rahmens mit vermutlich einem Strahlenbündel thematisieren das Pfingstwunder. Jeweils dazwischengeschaltete Felder enthalten Flechtband- und Akanthusmotive. Die Binnenfelder bieten die Anfangsworte des ersten Tagesmessgebets: Deus qui hodierna die corda fidelium sancti spiritus inlus/tratione. Im oberen auf Purpurgrund gehaltenen Binnenfeld ist das erste Wort mit einem D in unzialer Form ausgeführt, die aus Flechtwerk mit zwei antithetischen Tierköpfen als Abläufe gebildet wird und in deren Binnenraum sich eine Akanthusstaude befindet; auf dem S in insularer Form und mit Flechtbandknoten in den Zwickeln sitzt eine Taube, die einen Zweig im Schnabel hält und als origineller und zum Anlass passender Ersatz für den Abkürzungsstrich fungiert. Die restlichen Worte sind in Goldtinte, die auch an anderen Stellen gebraucht wurde, in einem insularen Zieralphabet in das untere Binnenfeld geschrieben.

Etwa zeitgleich und durch die Schrift verbunden mit dem Sakramentarfragment aus Erlangen und Augsburg ist der „Lorscher Rotulus” (Frankfurt/M., StUB, Ms. Barth. 179). Die Heiligenlitanei schmückt an den Seitenrändern ein mehrfarbiger Zierrahmen mit doppelten Randstreifen, Flechtwerk, ovalen Formen und aufgesetzten Quadraten, die Kreuzblüten und Vierpässe enthalten. Es verwundert nicht, dass ähnliche Formen sich auch im „Lorscher Evangeliar” mit seinen vielfältigen Spielarten der Seitenrahmungen finden lassen. Sie können jedoch nicht in direkte Beziehung zum „Lorscher Rotulus” gesetzt werden und weisen eine höhere Qualität der Ausführung auf. Doch gerade das durch den paläographischen Befund verwandte Sakramentarfragment mit seinen prachtvollen Zierseiten, denen sicher weitere, verlorene an die Seite gestellt waren, zeigt, dass die Buchmalerei in Lorsch eine hohe Qualität erlangt hatte. Auch wenn sicherlich weitere Zeugnisse verlorengegangen sind und unser Wissen über die Lorscher Buchkunst somit fragmentarisch bleibt, können aber dennoch die wenigen erhaltenen Illustrationen im Vergleich zu der großen Masse der erhaltenen Lorscher Handschriften nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Motiv- und Formenreichtum des „Lorscher Evangeliars” die Lorscher Buchmaler in karolingischer Zeit nur wenig zu herausragenden eigenen Leistungen angeregt hat.

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